… über wissenschaftliches Wissen und sensomotorische Wahrnehmung im Gesangunterricht erkläre:
„Wahrnehmung ohne Wissen führt häufig zu Missverständnissen.
Wissen ohne Wahrnehmung führt häufig zu Selbstüberschätzung.
Wahrnehmung und Wissen sind wichtig für den Gesangslehrer und im Gesangsunterricht sollte die Wahrnehmung des Schülers immer vor dem Wissen stehen.“
Es gibt viele Gesangslehrer mit einer sehr guten Wahrnehmung und einer sehr guten Intuition. Doch ohne das fundierte Wissen, d.h. Kenntnisse in Anatomie, Physiologie, Neurologie, Psychosomatik, Akustik u.a. und der Doppelventilfunktion und ihrer neurophysiologischen Zusammenhänge als Grundlage zur Stimmfunktion, ist es sehr schwer, diese Wahrnehmung einzuordnen bzw. in Einklang mit dem wissenschaftlichen Wissen zu bringen. Häufig kann deshalb der Lehrer die akustischen Signale der Singstimme und die verbalen Informationen und Kommunikation, die er vom Schüler erhält, nur mühsam einordnen. Er wendet eine begrenzte objektive Terminologie an und deshalb muss er auf subjektive Worte, die schwer zu definieren sind, zurückgreifen. Auf Basis seiner Ästhetik, seiner gelernten Stimmtechnik, seiner Lebenserfahrung und seiner persönlichen Stimmempfindungen wendet er eigene Beschreibungsworte bei seinen Anweisungen an den Schüler an. Das kann zu vielen Missverständnissen beim Schüler führen, da diese Empfindungen nicht unbedingt die Empfindungen des Schülers sind.
Es gibt viele Gesangslehrer mit einem sehr guten Wissen über die Stimmfunktion, sie haben viel wissenschaftliches Material über die Stimmfunktion gelesen und haben sich über Zusammenhänge Gedanken gemacht. Häufig ist die eigene Wahrnehmung über ihre Stimme nicht ausgeprägt. Viel Wissen verleitet dazu zu denken, dass man die Zusammenhänge kennt. Doch was nicht selbst erlebt wurde kann nur schwer eingeordnet werden.
Beim Gesangslehrer sind beide Bereiche von großer Bedeutung. Wissenschaftliche Kenntnisse und sensomotorische Empfindungen ergänzen sich. Wissenschaftliche Denkweisen helfen dem Lehrer sein mentales Konzept über die Stimmfunktion zu entwickeln und gekoppelt mit funktionalem Hören, Sehen und Mitempfinden akustische und physiologische Signale und psychosomatische Informationen einzuordnen. Dann ist der Lehrer fähig, den Sänger in seine sensomotorischen Empfindung zu leiten und die Zusammenhänge in der Stimmfunktion zu erkennen.
Im Gesangsunterricht sollte der Schüler in einer Übung zuerst in seine eigene Wahrnehmung geleitet werden. Die Wahrnehmung leitet in den Vergleich zwischen der Gewohnheit und dem neu Erlebten in der Stimmfunktion. Mit dem Vergleich muss der Lehrer dem Schüler Kriterien für die Selbstentscheidung anbieten. Auf Basis der Kriterien wählt der Schüler aus, was für ihn besser ist. Danach kommen Bestätigung und Erklärungen des Lehrers. So kann der Schüler die Wahrnehmungen einordnen und mit den Erklärungen die Zusammenhänge in der Stimmfunktion erkennen (Zusammenhänge von Körper-Atmung- und Stimmfunktion auf Basis der Doppelventilfunktion) und ein neues mentales Konzept entwickeln („wie der Sänger denkt, ist wie der Sänger singt“ E. Rabine) Dieses Konzept nimmt er vom Gesangsunterricht mit nach Hause, das hilft ihm und bildet die Basis beim Üben und Experimentieren mit seiner eigenen Stimme.
© Renate Rabine, 15. März 2009